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Siegbert Mahal (IDA)

 

 


Der Bürger als Souverän

Ist es so abwegig, die Dinge einmal anders zu sehen: Der Bürger ist der Souverän, nicht der Staat; der Bürger hat das Gewaltmonopol, der Staat kann gegen das Gewaltmonopol des Bürgers in bestimmten Fällen ein Widerstandsrecht ausüben? Oder: Der Staat hat das gleiche Recht, bei rechtswidrigem Vorgehen des Bürgers Gewalt gegen diesen anzuwenden, wie der Bürger bei rechtswidrigem, d. h. ihn in der Ausübung seiner Souveränitätsrechte störendem Verhalten gegen den Staat? Oder: Der Bürger tritt einen Teil seines Gewaltmonopols an den Staat ab, damit dieser die zwischenmenschliche Ordnung aufrechterhalten kann, soweit der Bürger dazu nicht in der Lage ist?

Das hört sich für uns fremd an. Aber diese Fremdheit liegt nicht daran, daß diese Situation rechtlich abwegig wäre, sondern an der Übung des Staates, seine Rechte schlechthin von sich selber bzw. den Parteien abzuleiten und die Rechte des Bürgers allenfalls nebenher laufen zu lassen; an der durch Jahrhunderte eingeübten Demutshaltung des Bürgers und schließlich an dem diese Demutshaltung fördernden Machtgebrauch des Staates, der im Bürger gar keine andere Meinung mehr aufkommen läßt als die, daß der Staat das Gewaltmonopol hat und mit diesem so umgehen kann, wie es ihm beliebt, und nicht, wie es dem Bürger als Souverän zukommt.

Wir sind davon überzeugt, daß es einen Staat geben muß, nicht nur einen "Nachtwächterstaat" - obwohl der Ausdruck gar nicht so schlecht ist - sondern einen Staat, der über genügend Macht verfügt, den Frieden zwischen seinen Bürgern aufrechtzuerhalten, aber auch nur über diese Macht. Ausgangspunkt und Basis unserer Auffassung ist die staats- und verfassungsrechtliche Konzeption der Demokratie, in der der Bürger bzw. das Volk der Souverän ist, nicht der Staat. Diese Souveränität kann sich nicht in den alle vier Jahre anstehenden Wahlen erschöpfen, wie man aus Art. 20 Abs. 2 GG entnehmen könnte: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Wählen kann man nur Parteien, diese wirken bei der politischen Willensbildung mit (Art. 21, Abs. 1 GG), nicht mehr und nicht weniger. Und es ist keinesfalls so, daß der Bürger durch die Wahl seine Souveränitätsrechte an die gewählte Partei abtritt. Sie bleiben bei ihm. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, und das Volk besteht aus einzelnen Bürgern. Entweder sieht man in dem Wort "Volk" nur eine Floskel, die den Einzelnen davon abhalten soll, seine Souveränität auszuüben, oder dieser Verfassungssatz ist so gemeint, wie er in der Verfassung steht, und dann muß man davon ausgehen, daß die Souveränität beim Bürger liegt, da sich das Volk aus Bürgern zusammensetzt. Wenn sich der Staat daher als Obrigkeit betrachtet und dem Bürger die Rolle des mehr oder weniger ohnmächtigen Untertanen zuweist, so entspricht das nicht der verfassungsrechtlichen Lage, auch nicht in einer repräsentativen Demokratie; denn das repräsentative Element bedeutet ja nur, daß die Bürger nicht unmittelbar an den Entscheidungen des Staates beteiligt sind. Das Souveränitätsmonopol des Bürgers bzw. des Volkes bleibt dadurch unangetastet und damit auch das Recht, über die Verteilung von Gewaltbefugnissen zu entscheiden.

Es gibt Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler, die wegen dieses Prinzips der Demokratie meinen, Demokratie könne in Wirklichkeit überhaupt nicht verwirklicht werden. Das demokratische Legitimitätsprinzip habe "Sprengkraft". Der Auffassung sind wir nicht. Wenn der demokratische Gedanke nicht in die Tat umzusetzen wäre, hätte er die gleiche (mangelhafte) Bedeutung wie der Kommunismus, der zwar im Prinzip auch ideal ist, sich aber bisher nicht verwirklichen ließ. Die Demokratie bildet sich ja gerade ein, die Probleme der Volksherrschaft gelöst zu haben, und muß daher an diesem Anspruch gemessen werden. Die Einschränkung, daß dies doch nicht möglich ist, würde sie wertlos machen. Man kann zwar der Auffassung sein, die Demokratie sei, wie sie heute ist, nur das kleinere Übel gegenüber anderen Staatsverfassungen, das würde uns aber nicht von der Verpflichtung entbinden, danach zu streben, den Verfassungsgrundsatz der Volksherrschaft (und nicht der Parteienherrschaft), zu verwirklichen.

Nun läßt sich gewiß fragen: Wohin soll das führen, wenn die Herrschaft im Staat und damit auch die Gewaltbefugnis beim Bürger bzw. dem Volk liegt? Gibt es dann nicht ein Chaos? Dazu ist zunächst eine Gegenfrage zu beantworten: Wohin führt es, wenn der Staat das Gewaltmonopol ganz an sich zieht und sich so verhält, als habe er es nicht vom Bürger abgeleitet, sondern besitze es von Ursprung an? Ein Bild von dem, was dann entsteht, haben wir heute: Die repressiven Elemente der Gesellschaft werden immer stärker und überwiegen schließlich die produktiven, schöpferischen Elemente, nicht nur in der Einparteienherrschaft, sondern auch in der Parteienherrschaft unserer Prägung. Wenn wir das dichte Netz von Behörden und Institutionen sehen, das heute geknüpft ist und immer noch weitergeknüpft wird, um den einzelnen Bürger zu erfassen, zu lenken und zu überwachen, vom Generalbundesanwalt über die "Verfassungsschutzämter" (eine falsche Bezeichung, wie wir schon sahen) und das Bundeskriminalamt bis hinunter zur Polizei, und wenn wir sehen, welch großer Teil der Bevölkerung beim Staat angestellt ist, um den anderen Teil zu verwalten, dann kann man über diese gigantische Maschinerie und das in ihr verkörperte Prinzip nur zutiefst erschrocken sein, und dann kann man auch die Armut an innovativen Ideen und befreienden Phantasien, an wirklich schöpferischen Leistungen, die allein geeignet wären, die neu entstehenden Probleme zu lösen, ja selbst die Schwierigkeiten unserer Wissenschaft und Wirtschaft verstehen, ihre einstige Spitzenstellung in der Welt zu behaupten.

Ordnung allein genügt nicht, um eine Gesellschaft am Leben zu erhalten, es muß auch etwas vorhanden sein, was zu ordnen ist. Und dieses Etwas ist das geistigkulturelle "Material", das aus schöpferischen Leistungen besteht, die erbracht werden müssen, um die ständig neue Umstellung auf die sich wandelnden Verhältnisse zu bewerkstelligen. Wo nur verteilt, geordnet, abgeschreckt, gesichert, beschränkt und gehemmt wird, besteht schließlich kein Freiraum mehr, durch eigenes Denken Neues entstehen zu lassen. Produktion, sowohl von Ideen wie von Leistungen, Werten, Gütern kann nur vom Individuum ausgehen, nicht von Behörden und Institutionen, erst recht nicht vom Staat. Produktion von Ideen und Werten ist aber die Hauptsache, damit eine Gesellschaft nicht erstarrt. Auch daher ist die Anerkennung des Bürgers als Souverän nur der verfassungsrechtliche Ausdruck eines natürlichen Zustands, ohne den ein Kollektiv auf die Dauer nicht leben kann.

Die Vereinigung der Souveränität und aller Gewaltbefugnisse beim Staat führt aber noch weiter, nämlich zum Mißbrauch des Menschen als Mittel zum Zweck des Staates, zur Teilung des Volkes in eine (kleine) Schicht von Mächtigen und eine große Masse von Ohnmächtigen und schließlich zu einem Zustand, in dem die Entscheidungen der Mächtigen zu ständigen Konflikten mit dem Bürger führen, dessen Interessenlage einfach überspielt wird, damit der Staat bei seinen einmal gefaßten, vom Erhalt der Macht inaugurierten Vorsätzen bleiben kann. Das ist die unselige Automatik jedes Systems, in dem die Souveränität total vom Menschen, vom Bürger abgetrennt ist.

Bestätigt nicht auch die gegenwärtige Weltlage, daß die Souveränität und das unbeschränkte originäre Gewaltmonopol beim Staat schlecht untergebracht ist, daß dieser Zustand katastrophale Folgen haben kann, ja sogar dazu neigt, solche heraufzubeschwören? Wenn der Staat von seiner Macht nur in dem Bewußtsein Gebrauch machen dürfte, daß ihm die Souveränität vom Bürger ausgeliehen worden ist, damit er bestimmte Aufgaben der Friedenserhaltung erfüllen kann, gäbe es möglicherweise keine solchen grundlegenden Konflikte zwischen Bürger und Staat, keinen so großen Repressionsapparat, keine bürgerkriegsähnlichen Situationen und Prügelszenen und keine Politik, die nur noch von Megatonnen von Atomsprengkraft ausgeht. Schon das Bewußtsein des Bürgers, daß die originäre Souveränität bei ihm liegt, würde sein Verhalten entscheidend beeinflussen. Er würde sich viel eher als Verantwortungsträger des Ganzen fühlen und bräuchte nicht mehr nach Widerstand zu sinnen, der sich ja nur daraus ergibt, daß er in die Rolle des bloßen Opfers staatlicher Maßnahmen gedrängt wird. Selbstverständlich heißt Souveränität des Bürgers nicht, daß jeder Bürger nach Belieben handeln darf. Aber auf diesen Gedanken würde der verantwortungsbewußte Bürger auch gar nicht mehr kommen. Er würde viel mehr geneigt sein, dem Staat Aufgaben zu übertragen, die nur der Staat erfüllen kann, wenn er sehen würde, daß der Staat diese Aufgaben auch im Interesse des Bürgers und streng innerhalb des dem Staat übertragenen Mandats erfüllen würde.

Die Perspektive ist also eine grundsätzlich andere als bei dem unreflektierten "Gewaltmonopol des Staates", das zu den heutigen Auswüchsen geführt und den unseligen Kreislauf zwischen Entscheidungskompetenz und Hemmungsfunktion nur noch beschleunigt hat: Der Staat hemmt durch Repression den Bürger in seinen spontanen und schöpferischen Ansätzen, der

Bürger verliert dadurch an Entscheidungskompetenz; die verlorene Entscheidungskompetenz führt zu einem weiteren Anwachsen der Hemmungsfunktion des Staates, weil der Bürger an mitverantwortlicher Übersicht verliert und womöglich im wachsenden Maße zum Ausbruch aus der ihm aufgezwungenen Schablone drängt. Die Gesellschaft wird instabil, und das einzige Innovationszentrum, der menschliche Geist, einer Zerreißprobe zwischen schöpferischem Impuls und gesetzlicher Reglementierung ausgesetzt.

An die Stelle von Verantwortungsträgerschaft tritt Orientierungslosigkeit, die leicht in blinden Aktionismus ausarten kann, und an die Stelle der Förderung innovativer Anstrengungen die Unterdrückung und Bespitzelung selbständigen Denkens. Dieser unglückselige Kreislauf kann nur dadurch durchbrochen werden, daß man mit der Souveränität des Bürgers, die von der Natur und von der Schöpfung her besteht, nicht nur im Geschriebenen der Verfassung, sondern auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, soweit sie vom Staat gestaltet wird, ernst macht. Hier sind jahrtausendealte Erkenntnisse aufzuarbeiten und Gebräuche und Gewohnheiten, die erst einige hundert Jahre alt sind, aufzugeben. Der Staat hat ja nicht immer die Stellung gehabt, die er heute hat. Im Mittelalter zum Beispiel mußte er zum einzelnen Bürger gehen, wenn er Steuern oder andere Dienste brauchte, und wer nicht zustimmte, konnte durch den Staat auch nicht verpflichtet werden, wie das heute ohne weiteres der Fall ist.

Die Souveränität des Bürgers, im Ursprung eine Selbstverständlichkeit, ist erst durch Machtansammlung des Staates in Jahrhunderten verlorengegangen. Mit dem Prinzip der Demokratie sind wir dieser fehlerhaften Entwicklung endlich auf die Spur gekommen, aber das Ziel, die daraus entstehenden Mißbräuche ein für allemal unmöglich zu machen, ist - nach vorübergehender Annäherung in den Jahren nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg - wieder fern gerückt "'.

Bestätigt wird das durch die Absicht der Regierung, den sogenannten "Kronzeugen" ins Strafverfahren einzuführen, d. h. dem Mitglied einer terroristischen Vereinigung Strafermäßigung oder sogar Straferlaß zu gewähren, wenn er gegen seine Komplizen aussagt. Hier werden die Rechte des Bürgers der "Staatsraison" geopfert, indem zum Beispiel auch der Mörder ohne Rücksicht auf das Unrecht, das er im zwischenmenschlichen Verhältnis angerichtet hat, vom Staat belohnt wird, wenn er nur dessen Sicherheit dient.

Damit ist die Frage angeschnitten, ob der Bürger überhaupt fähig ist, seine Souveränität auszuüben, und noch mehr, sie sich erst einmal selber vom Staat zurückzuholen. Das ist sicher ein langer Prozeß, der aber einmal in Gang gebracht werden muß. Ansätze hierzu sind allenthalben vorhanden. Der Staat selber wird gewiß nichts tun, die volle Mündigkeit des Bürgers ihm gegenüber herzustellen. Er profitiert ja von der Unmündigkeit der "Masse". Die Initiativen müssen vom Bürger ausgehen. So ist zum Beispiel die Friedensbewegung schon durch ihr Entstehen ein Signal dafür gewesen, wozu Bürger heute, auch in Deutschland, fähig sind. Und daß diese Bewegung auf dem richtigen Wege ist, wird dadurch belegt, daß der Staat jahrelang wütende Anstrengungen unternommen hat, sie als kommunistisch unterwandert hinzustellen und ihr vorzuwerfen, sie schwäche die Stellung des Staates. In der Tat will sie das tun, aber in einem ethisch guten Sinne, nämlich im Sinne der Bewußtmachung der Rechte des Bürgers, die der Staat eigentlich schützen soll, und der Entlarvung eines Staates, der den Bürger seit Jahrhunderten mißbraucht, seine Machtansprüche durchzusetzen.

 


Letzte Aktualisierung: 08.04.01

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